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RÜCKBLICK 2010

Kurzer Nachtrag zu "Vorsatzdepressionen": Der Text ist ohne Bezug auf den aktuellen Titel im Spiegel entstanden. Trotzdem zum Enstehen von Vorsätzen ein Zitat aus demselbigen Spiegel (Nr. 52/2010): "Den Beginn des Jahres feiert die Menschheit seit Jahrtausenden. Es ist ein heidnischer Brauch, die bösen Geister müssen vertrieben werden, die Seele soll von den schlechten Erinnerungen des alten Jahres gereinigt und auf das neue vorbereitet werden. Die Kirchenglocken läuten, die Raketen steigen in den Himmerl, die Böller krachen, das ist das Höllenspektakel, die Vertreibung der bösen Geister, und dann wünschen wir uns Glück und lesen die Botschaften aus der Zukunft im gegossenen Blei oder in Keksen, die niemand isst. Am Ende sind alle betrunken." (S.157 f.) 

MEIN JAHRESRÜCKBLICK 2010
Das Jahr neigt sich endgültig dem Ende, morgen ist Silvester. Seit Anfang Dezember publiziert jedes halbwegs intellektuelles Medium, (okay Kerner hat auch einen gemacht) einen Jahresrückblick. Trotz alledem und obwohl jeder schon mindestens einen Rückblick gesehen hat, steige ich jetzt auch noch ein in die Maschinerie Jahresrückblick.
Regelmäßig bietet sich eine Einteilung in Monate an. Was geschah im Januar, was im Februar, das Spiel lässt sich bis Dezember so weiterstricken. Aber ist wirklich alles wichtig was geschah? Aber nachlesen kann jeder alles. Wer sich dafür interessiert was am 9. Februar 2010 passierte, ist hier falsch. Das Bundesverfassungsgericht hat die Berechnung der Hartz IV-Sätze für verfassungswidrig erklärt. Das war am 9. Februar. Ich will keine Chronik, in der man ein bisschen stöbern und nachlesen kann. Also, ich schreibe nur darüber was in meinem Kopf hängen geblieben ist. Was ich wichtig fand, was mir prägend in Erinnerung geblieben ist. Auf nähere zeitliche Angaben verzichte ich. 

Was bleibt im Kopf? Stuttgart 21, Laufzeitverlängerung, Wutbürger, Castortransporte, Heiner Geißler, Latte Macchiato, Thilo Sarrazin, Integration, Multi-Kulti, Hartz IV-Erhöhung, Hartz IV, Hartzer, spätrömische Dekadenz, Westerwelles Abstieg, Guti-Guttenberg-KT, Kraftilanti, Hannelore Kraft, Loveparade-Tragödie, die Koch, Rüttgers, Köhler, Gauck, von Beust, Käßmann - Rücktritte, Chile-Wunder, RUHR.2010, A40, Stillleben, Haiti-Unglück, Fußball Weltmeisterschaft, Olympia Vancouver, Liu Xiaobo, jetzt wird es schon ein wenig knapper.

Zuallererst das Wort des Jahres: "Wutbürger". Angeblich liegt die Betonung ja auf "Bürger". Der Protest kommt jetzt aus der Mitte, heißt es immer. Ob das so stimmt darf zumindest bezweifelt werden. Umfragen haben ergeben, dass ein hoher Prozentsatz schon vor den Protestursachen eher linke Wähler waren. Eher nicht Bourgeoisie. Was haben sie in diesem Jahr nicht alles herauf beschworen? Die neue "Dagegen-Republik" wäre entstanden. Überall ist jeder gegen alles und nur noch destruktiv. Kann jemals wieder in Deutschland ein Großprojekt durchgesetzt werden? Der Bau des Stuttgarter Bahnhofs hat schon ein unglaubliches Bohei ausgelöst. Sofort wird alles in Frage gestellt, sogar Grundpfeiler des Demokratieprinzips. Es erscheint lächerlich, wie Tausende Menschen für ein paar alte Bäume und Käfer auf die Straßen gehen und ihrer Meinung Gehör verschaffen. Aber Demonstrationen sind nie lächerlich, das Recht dazu ist gerade für die Schwächeren geschaffen worden, für die, die man sonst nicht hört. Das ist die Rückmeldungsmöglichkeit für den Wähler. Der Wähler wird kurzerhand zum "Wutbürger" auserkoren. Nur weil er sich gegen Atomenergie und ein Millionen-Bauprojekt stellt. Ist denn das so falsch? Kann man daraus schon lesen, dass man gegen ALLES erdenkliche auf der Welt ist? Wer gegen Atomenergie ist, ist gleichzeitig für erneuerbare Energien. Dazu verpflichtet die Logik. Nur die ganz hartnäckigen Grünen, die entziehen sich der Logik. Gegen erneuerbare Energien UND gegen Atomenergie. Wir heizen demnächst einfach wieder mit Holz. Strom brauchen wir eh nicht mehr. Kein Wunder, dass solch hintermondlebigen Kreaturen sich den Vorwurf einheimsen gegen alles zu sein. Erschreckend bleibt noch zu erwähnen, wie hart die Staatsgewalt gegen die Demonstranten vorgegangen sind. Beunruhigend wie hart Schläge gewesen sein müssen, wie verletzend ein Wasserstrahl im Auge sein kann. Die Politik wird sich 2011 mehr auf die Bürger zubewegen müssen. Sie einbeziehen und vor allem erklären! Da hilft auch Altmeister Geißler nicht mehr. Der kann zwar schlichten, aber Sinn der Sache muss sein, das Schlichten überflüssig wird.          
 
Fast würde ich sagen man kann Sarrazin, Integration und Hartz IV in einen Abschnitt packen. Wie dieser Mann, Thilo Sarrazin, zu einem Bestsellerautor werden konnte ist für das Land der Dichter und Denker eine Blamage. Wie oft musste ich den Satz hören: "Im Kern hat er ja recht." Einen Scheißdreck hat er. Und ja, das muss man genau so hart ausdrücken. Wer soziale Kompetenzen, Intelligenz, Gene, Religionen und soziale Gruppen in einen Zusammenhang stellt und die These erhebt, dass innerhalb von solchen Gruppierungen Intelligenz unterschiedlich gut vererbt würde, der steht nicht nur an der Grenze zum Rassismus, der ist rassistisch. Das sind volksverhetzende Thesen für die unsere freiheitlich demokratische Grundordnung keinen Platz haben darf. Jede Meinung ist respektabel, aber auf dem Boden unserer Verfassung. Auf dem Boden von Demokratie, von Menschenwürde. Wer Gruppierungen zuschreibt sie seien dumm, der entzieht ihnen die Würde und das dürfen gerade wir Deutsche uns nicht gefallen lassen. Weder von einem Bundesbankvorstand, noch von einem Ex-Bundesbankvorstand. Der Mann ist kein Sozialdemokrat. Vielleicht hat ja die NPD noch einen Platz für den Anti-Autoren des Jahres. Integration funktioniert schlußendlich genauso gut wie vorher. Und das ist nicht, wie Sarrazin alle glauben lassen wollte, ein völliger Misserfolg. Wir alle müssen weiter an uns arbeiten. Wir müssen Ausländer integrieren wollen, ihnen das Gefühl geben, dass wir sie brauchen. Dann können sie sich wohl fühlen und Mitintegration betreiben. Multi-Kulti ist nicht tot. Wir müssen es nur am Leben halten und nicht mit solchen kruden Thesen von Sarrazin falsches Öl ins falsche Feuer gießen. Mehr konstruktive Mitarbeit! Vielleicht von Herrn Sarrazin? Auch die Hartz IV-Empfänger, inzwischen problemlos überall als Hartzer bekannt, haben kein leichtes Jahr hinter sich. Erst schien mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (s.o.) alles besser zu werden, dann kam die große Freude. Fünf Euro gibt es monatlich mehr! Das reicht für gerade mal einen Spiegel am Kiosk. Ob es noch mehr werden? Dem Bundesrat sei dank, das immer noch verfassungswidrige Gesetz wurde blockiert. Jetzt beraten sich alle Parteien herzlich, ob sie vielleicht noch ein bisschen mehr geben sollen. Frau von der Leyen lehnt das natürlich ab. Sie vergisst, sie ist gar nicht in der Position zu bestimmen was geht und was nicht. Die Debatte geht auch 2011 weiter. 

"Ich mach dann mal den Köhler", oder die Käßmann? Oder den von Beust? Oder den Koch? Oder den Rüttgers? Ja, 2010 war das Jahr der Rücktritte. In einem der peinlichsten Momente aller Zeiten hat Horst Köhler seinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten erklärt. Der beleidigte Leber-Hotte. Da hat ihn doch tatsächlich jemand kritisiert und schon wirft er hin. Das Mitleid der Leute jedenfalls hat er, warum auch immer. Die Situation, wie er Händchenhaltend am Pult steht, mit Tränen in den Augen werde ich mit 2010 verbinden. Obwohl er sich bemühte die drei Sätze freizusprechen vergewisserte er sich doch noch mal, ob er wirklich Bundespräsident war. Denn als er sagte "Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des..." musste er noch mal auf seinen Text gucken. Zum Glück stand es da: "... Bundespräsidenten. Mit sofortiger Wirkung." Schade um ihn ist es nicht, der nächste Bundesnotar steht schon bereit: Christian Wulff. Das Land hätte Joachim Gauck verdient gehabt. Aber die Wahl Wulffs war wieder so ein Moment, in dem der "Wutbürger" seinen Zorn sammelte. Des Wählers Wunsch sei allerzeit gedient. Pustekuchen. Auch um Rüttgers, Koch oder von Beust weint letzlich niemand. Außer natürlich die CDU. Aber eigentlich brauchte niemand diesen Rüttgers mit seinen Rumänen-Witzen, Koch der jetzt seinen Kindheitstraum im Bagger verwirklichen darf oder von Beust, mit dem ich rein gar nichts verbinde. Diese sind alle von der Bildfläche verschwunden, besser hat es Margot Käßmann gemacht. Sie wurde durch ihre Promillefahrt und den anschließenden Rücktritt erst so richtig berühmt. 

Hannelore Kraft ist Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen geworden. Mit einer Minderheitsregierung. Und trotzdem: langezeit als Kraftilanti verschrien, gelingt es ihr in NRW solide Politik zu machen und zu überzeugen. Inzwischen wird sie mit Respekt behandelt und gilt als neue Hoffnung in der SPD - nein, das ist kein Paradoxon. Als sonstige Personalien bleiben Guido Westerwelle, der als Außenminister 2010 eigentlich nicht aufgetreten ist und als Parteichef der FDP komplett versagt hat. Der Vizekanzler Westerwelle ist die Ursache für das Versagen des Parteichefs. Ein Mann, ein Untergang. "Ihr kauft mir den Schneid nicht ab"- oh, doch. Sein Gegenspieler Karl-Theodor zu Guttenberg ist der politische Aufsteiger des Jahres. Ich habe schon viel zu ihm gesagt und will das nicht doppeln. Aber es bleibt 2011 sicher spannend, was in der Causa KT noch zu passiert. 

Kulturell war Ruhr.2010 mit dem Stillleben auf der A40 bedeutend. Eine Woche lang wurde das grandiose Ereignis gefeiert, bis bei der Loveparade-Tragödie in Duisburg 21 Menschen getötet wurden. Die Schuldfrage noch immer ungeklärt. Die Weltmeisterschaft in Südafrika verbreitet immer noch Ohrenschmerzen, allein beim Gedanken an Vuvuzelas. Weltmeister wurde... Öhm, leider nicht Holland. Der holländische Fußball hat Sympathien in Deutschland gesammelt. Im Gegensatz zu den olympischen Winterspielen in Vancouver, an die sich kein Mensch mehr erinnert. 
Als letztes möchte ich noch mal auf Liu Xiaobo hinweisen. Und an den gewaltlosen Kampf für Menschenrechte in der Welt appelieren. 

2011, wir kommen. 


her



P.S. Der nächste Text erscheint am Dienstag, den 4. Januar 2011.  
   

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