"Die Bundesbank ist Thilo Sarrazin los. Damit ist die Geschichte
aber längst nicht vorbei. Denn beunruhigend sind nicht allein die
populistischen Thesen dieses Bankiers, beunruhigend ist vielmehr die
Plausibilität, die seinen Ausführungen zugestanden wird. Eine
erstaunliche Anzahl von PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und
MeinungsmacherInnen sind sich einig: Der Sarrazin’sche Biologismus hat
zwar in Deutschland einen besonderen Hautgout, im Kern aber habe der
Mann doch Recht. Nicht wenige feiern den ehemaligen Finanzsenator
Berlins als Tabubrecher mit visionärem Blick für Deutschlands Zukunft.
Wir fragen: welches Tabu? Die Skandalisierung der Migration gehört zum
Standardrepertoire in Deutschland. Es ist sinnlos, den infamen
Behauptungen von Sarrazin et al. wissenschaftliche Fakten
entgegenstellen zu wollen, um zu beweisen, was MigrantInnen „wirklich“
tun oder lassen.
Man kann diese Debatte nicht versachlichen, denn nichts an ihr ist
richtig. Wir akzeptieren schlicht keine Haltung, die gesellschaftliche
Verhältnisse nach Kosten-Nutzen-Erwägungen durchrechnet und Arme und
MigrantInnen zur Ausschusspopulation erklärt. Dies geschieht im Kontext
einer globalen Wirtschaftskrise, von der nur allzu klar ist, wer ihre
Folgen tragen soll.
Wir wollen das Offensichtliche klar stellen. Wir leben in einer
Einwanderungsgesellschaft. Das bedeutet: Wenn wir über die Verhältnisse
und das Zusammenleben in dieser Gesellschaft sprechen wollen, dann
müssen wir aufhören, von Integration zu reden. Integration heißt, dass
man Menschen, die in diesem Land arbeiten, Kinder bekommen, alt werden
und sterben, einen Verhaltenskodex aufnötigt, bevor sie gleichberechtigt
dazugehören. Aber Demokratie ist kein Golfclub. Demokratie heißt, dass
alle Menschen das Recht haben, für sich und gemeinsam zu befinden, wie
sie miteinander leben wollen. Die Rede von der Integration ist eine
Feindin der Demokratie.
Noch vor kurzem wurden MigrantInnen der besonderen Missachtung von
Frauenrechten bezichtigt. Die aktuelle Hysterie zeigt aber einmal mehr,
dass es den KritikerInnen der Migration nicht um Gleichberechtigung
geht: Hier wird über Frauen nur noch als Gebärende gesprochen, die
entweder zu viel oder zu wenig Nachwuchs produzieren. Es muss darum
gehen, rechtliche und politische Strukturen zu schaffen, die es
MigrantInnen ermöglichen, selbstbestimmt ihr Leben zu gestalten – und
das beinhaltet auch, das Ausländerrecht zu verändern.
Wenn selbsternannte LeistungsträgerInnen sich ein quasi
„naturgegebenes“ Recht zubilligen, über die Daseinsberechtigung anderer
zu urteilen, dann ist das wohl ein neuer Mix aus Neoliberalismus und
Rassismus. Bisher wurden Sprache, Kultur und religiöse Gebräuche der
migrantischen Minderheiten für deren Lebensverhältnisse verantwortlich
gemacht. Jetzt sollen es die Gene sein. Bisher wurde behauptet, dass
durch Leistung, Arbeitsethos und Anpassung ein Platz in der Gesellschaft
gesichert ist. Jetzt wird ganzen Gruppen nicht nur die Möglichkeit,
sondern auch die Fähigkeit dazu abgesprochen. Inakzeptabel ist nicht nur
der Rassismus, der in den Ausführungen von Sarrazin und seinen
Mitläufern steckt, sondern auch die darin enthaltene Konsequenz,
Hierarchien in dieser Gesellschaft als unverrückbar zu erklären und
damit Politik an sich, die Konflikte, Verhandlungen und Kämpfe um ein
besseres Leben für sinnlos zu erklären.
Es sind politische Entscheidungen, die für die Verarmung und
soziale Deklassierung zunehmender Teile der Bevölkerung verantwortlich
sind. Reden wir davon, wie dieses Deutschland jahrzehntelang den
Eingewanderten ihre sozialen und politischen Rechte vorenthalten hat.
Reden wir davon, dass MigrantInnen der Zugang zu Bildung, Wohnraum und
Arbeitsplätzen, in öffentliche Institutionen und Ämter ebenso wie in
Clubs und Fußballvereine systematisch erschwert wird. Das Problem sind
weder die Armen noch die MigrantInnen, das Problem ist eine Politik, die
Armut und Rassismus produziert. Das Problem ist eine Gesellschaft, die
sich auch über Ausgrenzung definiert.
Unübersehbar ist, wie viele Sarrazin eilig beispringen und nach dem
Recht auf Meinungsfreiheit rufen, ganz so, als ob er ein Problem hätte,
seine Thesen öffentlich zu machen. Die Kritik an ihm wird zum Angriff
auf die Freiheit des Wortes stilisiert. Der Aggressor wird so zum Opfer,
auch das ist leider eine sehr gewöhnliche Inszenierung. Wer Sarrazins
bevölkerungspolitische Ansichten übernimmt, arbeitet mit an der Spaltung
unserer Gesellschaft."http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/nein-zur-ausgrenzung/
http://demokratie-statt-integration.kritnet.org/
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