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Der alte Nazi

Deutschland hat ein Problem mit seiner Geschichte. Das ist keine bahnbrechende Erkenntnis, aber sie stimmt nun einmal. In Deutschland ist man schneller als Nazi verschrien, als man Ausländer sagen kann. Und das ist auch gut so. Wir haben als Deutsche eine besondere Verantwortung gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte und deshalb ist es besonders wichtig aufzupassen, was wir sagen, was wir denken und wie wir handeln. Deutschland darf kein Nährboden für Nazis sein, Deutschland muss ein tolerantes, offenes und integrationsförderndes Land sein. Wie problematisch uns manchmal die Geschichte des Zweiten Weltkrieges einholt, sieht man am Fall John Demjanjuk. Vor dem Münchner Landgericht läuft seit Monaten der Prozess gegen den Mann, dem Beihilfe zum Mord an mehr als 27.900 Menschen vorgeworfen wird. Er soll im Vernichtungslager Sobibor an der Ermordung von Juden beteiligt gewesen sein. Demjanjuk sei dort als Wachmann "tätig gewesen", heißt es. Dienstag sprachen beide Seiten die Plädoyers, sowohl Verteidigung, als auch die Staatsanwaltschaft. 

Demjanjuk spielt schon seit Beginn des Prozesses mit seiner Gesundheit. Immerhin ist der Mann 90 Jahre alt. Anfangs brachten ihn die Justizbeamten auf einer Liege in den Gerichtssaal, später auch mal im Rollstuhl. Aber immer legte John Demjanjuk wert darauf zu inszenieren, wir krank er ist, wie unzumutbar dieses langwierige Gerichtsverfahren für ihn ist. Er trägt Sonnenbrille und Kappe, niemand soll ihm zu Nahe kommen. Schon gar nicht, soll ihm jemand in die Augen gucken können. Sehen so die Augen eines ekelhaften Massenmörders aus? Diese Frage vermag uns die Sonnenbrille nicht beantworten. Demjanjuk zeigte während des gesamten Verfahrens keine körperliche Regung. Während er so auf seiner Liege lag, hätte man denken können, er sei bereits tot. Auf eine Äußerung seinerseits wartete man vergeblich. Was geht in diesem Mann vor? Ist er sich bewusst, sich für seine grausamen Taten rechtfertigen zu müssen? Oder wartet er schlicht und ergreifend auf den Tag seines Ablebens? Wie sieht es in einem Mann aus, der vor fast 70 Jahren den Tod von 28.000 Menschen zumindest mitzuverantworten hat? 

Für uns Deutsche ist dieser Fall wieder Anlass zur Auseinandersetzung mit der Geschichte. Muss man einen 90-jährigen, alten, gebrechlichen Mann wirklich noch in das Gefängnis stecken? Oder muss gerade bei einem der letztmöglichen NS-Verbrecher-Prozess noch einmal juristisch die Verurteilung der gesamten Taten deutlich gemacht werden? Sprich: Ist der Fall John Demjanjuk wirklich der Fall John Demjanjuk oder eher der Fall NS-Deutschland vor 70 Jahren? Wir sehen unsere eigene Geschichte vor Gericht. Der Fall Demjanjuk hat großen Symbolcharakter. Doch was macht unsere Justiz aus dem Fall? Das Plädoyer der Staatsanwaltschaft vom letzten Dienstag ist erbärmlich. Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz forderte sechs Jahre Haft für Demjanjuk. Sechs Jahre Haft wegen Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen. 

Das entspricht ungefähr einem Tag Gefängnis für 13 Tote.

Bei aller Liebe zur deutschen Justiz: das darf doch nicht wahr sein. Entweder ist der Mann schuldig und zur lebenslanger Freiheitsstrafe zu verurteilen oder er ist unschuldig und damit freizusprechen. Aber er kann doch nicht wegen solchen unzähligen würdelosen Taten genauso lange ins Gefängnis kommen, wie jemand der illegal raubkopiert. Die Beweislage ist schwach, wie sollte es auch anders sein, wenn man 70 Jahre später versucht etwas zu rekonstruieren. Es ist nicht zweifellos bewiesen, dass Demjanjuk tatsächlich im Lager Sobibor Menschen tötete, aber es ist sehr wahrscheinlich. Unsere Justiz lebt davon nicht nach Wahrscheinlichkeiten zu urteilen, sondern nach Faktenlagen. Diese hätte vor 30, 40 Jahren noch ganz anders ausgesehen. Die zentrale Frage ist also nicht, ob Demjanjuk heute noch verurteilt wird - sondern warum man sich erst sieben Jahrzehnte später gerichtlich mit seiner Geschichte auseinandersetzt. Viel zu spät also.


her 

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