Samstagmorgen, 10.50 Uhr. Es ist ein herrlicher Tag, die Sonne scheint, der Himmel wolkenlos, die Luft riecht nach Frühling. An solchen Tagen habe ich das Gefühl Bäume ausreißen zu können, die Welt zu verändern. Das Alles-ist-möglich-Gefühl. Es kribbelt dann in meinem Bauch und ich werde allein schon durch den Anblick der Natur und das Wissen mir gelänge alles, glücklich. Ja, manche nennen das einfach Frühlingsanfang. Das klingt aber so banal. Außerdem spricht die Temperatur an diesem Samstagmorgen auch völlig dagegen. Es ist einfach bitter kalt. Deshalb ziehe ich den Mantel an und einen Schal. Ich will nicht frieren, obwohl ich weiß, dass ich gar nicht draußen sein werde. Die Scheiben im Auto sind sogar leicht beschlagen, als ich mich hinein setze. Auf der Fahrt überlege ich mir, was mich wohl erwartet. Wohin fahre ich überhaupt? Und wozu fahre ich dorthin?
Ich biege in die Zielstraße ein, fahre auf den Parkplatz. Zunächst fällt mir die Masse an Autos auf, später merke ich, dass es doch mehr freie als belegte Plätze gibt. Das Vereinsheim zu dem ich fahre ist hochgelegen, man muss Treppen steigen, wenn man hineingehen möchte. Noch nie zuvor war ich an diesem Ort. Es ist ein sonderbares Gefühl, das mich umtreibt. Auf der Treppe sehe ich aus der Ferne einen Mann. Er trägt eine beige Jacke, eine graue Hose und schwarze Schuhe. Der Mann ist genau derjenige, den sich jeder vorstellen würde, wenn er an eine solche Veranstaltung denkt. Ja, es ist Jahreshauptversammlung. Beim Ortsverein. Die Partei, die sich hier versammelt, nannte man früher klassische Volkspartei. Aber seitdem schon Grüne in einen solchen Status erhoben wurden, ist das Wort der Volkspartei abgenutzt. Volks-Partei. Eine Partei für das Volk? Eine Partei vom Volk? Beides?
Wieder mit den Augen auf der Treppe sehe ich, wie der Mann sich an das Geländer klammert. Er zieht sich förmlich daran hoch. Ich komme immer näher und sehe, dass dieser Mann wohl schon über 80 ist. Mit dem Alter verschätze ich mich gerne, aber hier bin ich mir sicher. Der Mann mit der unverwechselbaren beigen Jacke schafft es aber. Er gelangt in die Versammlung und setzt sich später neben mich. Als ich den Raum betrete, werden meine schlimmsten Befürchtungen wahr. Herzlich willkommen beim Seniorenclub. Da die meisten sitzen, erblicke ich sofort die Masse an grauen Haaren. Und ich kann mir nicht verkneifen nachzuzählen. Es sind genau vier Personen, deren Haarfarbe nicht grau ist. Davon hat hat einer Glatze, zwei die Haare gefärbt und ich hab noch meine Ursprungsfarbe. Der nächste, also der Zweitjüngste nach mir ist doppelt so alt wie ich. Das ist die bittere Erkenntnis der ersten Minuten. Auf einer Seite der Tische ist eine ganze Reihe frei, ich setze mich. Gegenüber von mir sitzen zwei Damen, die sich über Eierlikör-Vorräte unterhielten. Man ist aber freundlich hier, beim Ortsverein. Das muss man sagen, ein freundliches "Hallo" und einen Handschlag hat hier fast jeder übrig. Vielleicht versucht man so wett zu machen, was nicht ausgesprochen wird, denke ich mir.
Der Raum ist gefüllt, offensichtlich hat man mit dieser Menge an Besuchern gerechnet. Es sind genau 40 Mitglieder der Partei gekommen. Von einem Ortsverein des größten Ortsteils einer mittelgroßen Stadt. 40 Mitglieder.
Jeder hat fein säuberlich einen Kugelschreiber dabei und das Schreiben mit der Tagesordnung vor sich liegen. Gespräche über das ganz große, über die Visionen von früher, sucht man vergeblich. Atomkraft? "Das ist doch alles Verarsche", sagte eine der mir gegenübersitzenden Damen. Libyen? "Der Gadaffi hat sie doch nicht mehr alle", sagt die andere. Antworten, große Visionen von politischen Lösungen gibt es hier nicht. Ich merke meine Enttäuschung. Wo in diesem Land, wenn nicht hier redet man noch über das große Ganze? Es sind die Parolen, die wohl jeder halbwegs aufgeklärte Bürger in eine Kamera sagen würde, sollte man ihn Fragen. Kritik an der Regierung, ja dafür hat man hier etwas übrig. (Von welcher Partei ist hier wohl die Rede?) Aber Visionen? Fehlanzeige. Kritik üben: ja, Alternativen bieten: nein. Meine Erwartungen waren zu hoch, rede ich mir ein. Meine Enttäuschung vertreibt das an diesem Mittag nicht mehr.
Neuwahlen stehen an. Utopisch, ja, aber ich hatte Erwartungen. Ich hatte mir gewünscht, dass mir jemand sagt, was ich tun soll. Dass sich jemand kümmert, in der "Kümmerer-Partei". Dass mir jemand erklärt, wen ich wähle. Und vielleicht hätte ich mich sogar selbst wählen lassen.
Aber dazu kommt es nicht. Alle zehn Minuten bekomme ich einen Wahlzettel in die Hand gedrückt, mit Namen versehen, die ich nur bruchstückhaft mit irgendetwas verbinden kann. Ist das nicht der aus dem Wahllokal? War der nicht neulich in der Zeitung? Möglich. Aber meine Kreuzchen mache ich bei "Ja", wo es keine Auswahl gibt und wo es Auswahl gibt, mache ich so viele Kreuzchen wie möglich. Ich hab ja eh keine Ahnung, worum es geht. Sollte ich fragen? Sollte ich mich trauen und das ganze uralt-eingefahrene Konzept hinterfragen? Ich, derjenige, der zum ersten Mal dabei ist? Nein, nur nicht den Eindruck vermitteln, man wüsste alles besser. Erstmal Atmosphäre schnuppern.
Die Wahlen ziehen an mir vorbei, immer neue Kreuzchen, immer neue Namen. Die Ergebnisse werden beklopft, der Gewählte bedankt sich. Fertig. Noch ein paar warme Worte vom Bürgermeister, ein Schlußwort und danach Bockwürstchen im Brötchen. Feierabend.
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Warum war ich da? Hätte man mich vermisst? Wären es halt 39 statt 40 Stimmen gewesen. Na und? Wen kümmert's?
Ich wollte wissen, wieso Parteien aussterben, warum sich niemand mehr mit ihnen identifizieren kann. Aber dieser Samstagmorgen hat mir den Eindruck vermittelt, dass man seelenruhig weiter in sein Unheil fährt. Ohne makaber sein zu wollen, in zehn Jahren spätestens, hat dieser Ortsverein die Hälfte seiner Mitglieder an den lieben Gott verloren. Und dann? Wählen dann nur noch diejenigen, die gewählt werden müssen? Wozu werden sie überhaupt noch gewählt? Steht unsere Demokratie, unsere Parteiendemokratie damit nicht vor einem Kollaps?
Resignation ist das Todesurteil für unsere geliebte Demokratie. Ich lasse mich nicht abschrecken und nehme den Kampf auf. Den Kampf für mehr politische Bildung. Bei denjenigen, die gar nicht wissen, was ein Ortsverein ist.
her
Ich biege in die Zielstraße ein, fahre auf den Parkplatz. Zunächst fällt mir die Masse an Autos auf, später merke ich, dass es doch mehr freie als belegte Plätze gibt. Das Vereinsheim zu dem ich fahre ist hochgelegen, man muss Treppen steigen, wenn man hineingehen möchte. Noch nie zuvor war ich an diesem Ort. Es ist ein sonderbares Gefühl, das mich umtreibt. Auf der Treppe sehe ich aus der Ferne einen Mann. Er trägt eine beige Jacke, eine graue Hose und schwarze Schuhe. Der Mann ist genau derjenige, den sich jeder vorstellen würde, wenn er an eine solche Veranstaltung denkt. Ja, es ist Jahreshauptversammlung. Beim Ortsverein. Die Partei, die sich hier versammelt, nannte man früher klassische Volkspartei. Aber seitdem schon Grüne in einen solchen Status erhoben wurden, ist das Wort der Volkspartei abgenutzt. Volks-Partei. Eine Partei für das Volk? Eine Partei vom Volk? Beides?
Wieder mit den Augen auf der Treppe sehe ich, wie der Mann sich an das Geländer klammert. Er zieht sich förmlich daran hoch. Ich komme immer näher und sehe, dass dieser Mann wohl schon über 80 ist. Mit dem Alter verschätze ich mich gerne, aber hier bin ich mir sicher. Der Mann mit der unverwechselbaren beigen Jacke schafft es aber. Er gelangt in die Versammlung und setzt sich später neben mich. Als ich den Raum betrete, werden meine schlimmsten Befürchtungen wahr. Herzlich willkommen beim Seniorenclub. Da die meisten sitzen, erblicke ich sofort die Masse an grauen Haaren. Und ich kann mir nicht verkneifen nachzuzählen. Es sind genau vier Personen, deren Haarfarbe nicht grau ist. Davon hat hat einer Glatze, zwei die Haare gefärbt und ich hab noch meine Ursprungsfarbe. Der nächste, also der Zweitjüngste nach mir ist doppelt so alt wie ich. Das ist die bittere Erkenntnis der ersten Minuten. Auf einer Seite der Tische ist eine ganze Reihe frei, ich setze mich. Gegenüber von mir sitzen zwei Damen, die sich über Eierlikör-Vorräte unterhielten. Man ist aber freundlich hier, beim Ortsverein. Das muss man sagen, ein freundliches "Hallo" und einen Handschlag hat hier fast jeder übrig. Vielleicht versucht man so wett zu machen, was nicht ausgesprochen wird, denke ich mir.
Der Raum ist gefüllt, offensichtlich hat man mit dieser Menge an Besuchern gerechnet. Es sind genau 40 Mitglieder der Partei gekommen. Von einem Ortsverein des größten Ortsteils einer mittelgroßen Stadt. 40 Mitglieder.
Jeder hat fein säuberlich einen Kugelschreiber dabei und das Schreiben mit der Tagesordnung vor sich liegen. Gespräche über das ganz große, über die Visionen von früher, sucht man vergeblich. Atomkraft? "Das ist doch alles Verarsche", sagte eine der mir gegenübersitzenden Damen. Libyen? "Der Gadaffi hat sie doch nicht mehr alle", sagt die andere. Antworten, große Visionen von politischen Lösungen gibt es hier nicht. Ich merke meine Enttäuschung. Wo in diesem Land, wenn nicht hier redet man noch über das große Ganze? Es sind die Parolen, die wohl jeder halbwegs aufgeklärte Bürger in eine Kamera sagen würde, sollte man ihn Fragen. Kritik an der Regierung, ja dafür hat man hier etwas übrig. (Von welcher Partei ist hier wohl die Rede?) Aber Visionen? Fehlanzeige. Kritik üben: ja, Alternativen bieten: nein. Meine Erwartungen waren zu hoch, rede ich mir ein. Meine Enttäuschung vertreibt das an diesem Mittag nicht mehr.
Neuwahlen stehen an. Utopisch, ja, aber ich hatte Erwartungen. Ich hatte mir gewünscht, dass mir jemand sagt, was ich tun soll. Dass sich jemand kümmert, in der "Kümmerer-Partei". Dass mir jemand erklärt, wen ich wähle. Und vielleicht hätte ich mich sogar selbst wählen lassen.
Aber dazu kommt es nicht. Alle zehn Minuten bekomme ich einen Wahlzettel in die Hand gedrückt, mit Namen versehen, die ich nur bruchstückhaft mit irgendetwas verbinden kann. Ist das nicht der aus dem Wahllokal? War der nicht neulich in der Zeitung? Möglich. Aber meine Kreuzchen mache ich bei "Ja", wo es keine Auswahl gibt und wo es Auswahl gibt, mache ich so viele Kreuzchen wie möglich. Ich hab ja eh keine Ahnung, worum es geht. Sollte ich fragen? Sollte ich mich trauen und das ganze uralt-eingefahrene Konzept hinterfragen? Ich, derjenige, der zum ersten Mal dabei ist? Nein, nur nicht den Eindruck vermitteln, man wüsste alles besser. Erstmal Atmosphäre schnuppern.
Die Wahlen ziehen an mir vorbei, immer neue Kreuzchen, immer neue Namen. Die Ergebnisse werden beklopft, der Gewählte bedankt sich. Fertig. Noch ein paar warme Worte vom Bürgermeister, ein Schlußwort und danach Bockwürstchen im Brötchen. Feierabend.
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Warum war ich da? Hätte man mich vermisst? Wären es halt 39 statt 40 Stimmen gewesen. Na und? Wen kümmert's?
Ich wollte wissen, wieso Parteien aussterben, warum sich niemand mehr mit ihnen identifizieren kann. Aber dieser Samstagmorgen hat mir den Eindruck vermittelt, dass man seelenruhig weiter in sein Unheil fährt. Ohne makaber sein zu wollen, in zehn Jahren spätestens, hat dieser Ortsverein die Hälfte seiner Mitglieder an den lieben Gott verloren. Und dann? Wählen dann nur noch diejenigen, die gewählt werden müssen? Wozu werden sie überhaupt noch gewählt? Steht unsere Demokratie, unsere Parteiendemokratie damit nicht vor einem Kollaps?
Resignation ist das Todesurteil für unsere geliebte Demokratie. Ich lasse mich nicht abschrecken und nehme den Kampf auf. Den Kampf für mehr politische Bildung. Bei denjenigen, die gar nicht wissen, was ein Ortsverein ist.
her
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