Von Henning Rasche.
Cem Özdemir ist bester Laune. Zur Begrüßung schwäbelt er vor sich hin, macht heitere Scherzchen und lacht über Peter Siller, der für eines seiner zahlreichen Plädoyers nur zwei sanfte Klatscher bekommt. Aber ganz so fröhlich, wie es in den ersten Minuten des Gesellschaftsforums im Saal sechs des Kosmos ist, sollte es nicht bleiben. Er habe sich Sorgen gemacht, ob es genügend Kontroversen gäbe, sagt Özdemir. Schon in den ersten zwei Minuten muss er feststellen, dass die beiden Diskutanten auf der Bühne ganr nicht anders können, als kontrovers zu diskutieren oder sagen wir es lapidar: sich zu fetzen. Spätestens am Ende der Debatte wird klar, dass Ulrike Herrmann von der taz und Peter Siller unterschiedliche Ansichten haben. Sie mache sich über seine philosophischen Grundgedanken lustig, er hebe zu sehr ab. Das Grundargument von Siller für seinen grundphilosophischen und normativen Überbau: "Wir stehen häufig für etwas ein, wissen aber gar nicht mehr warum", deshalb bräuchten wir solche abstrakten Gedankengänge findet Siller.
Thema der Veranstaltung war eigentlich: "Was heißt Verteilungsgerechtigkeit? Individuen, Institutionen und erweiterte Gerechtigkeit". Siller und Herrmann bildeten die Diskussionsbasis. Sie leiteten ein, sie beendeten die Debatte. Aufgrund ihrer Vorschläge konnte man sich zu Wort melden, obwohl grundsätzlich das Thesenpapier - das im Übrigen zehn Seiten umfasste, alle anderen waren maximal zwei Seiten lang - im Zentrum der Diskussion war.
Verteilungsgerechtigkeit. Laut Ulrike Herrmann heißt das, der Abstand zwischen oben und unten nicht besonders groß sein darf. Eine Systemfrage, sei das. Und obwohl die taz-Journalistin grünes Parteimitglied ist, startet sie mit herber Kritik an der rot-grünen Regierung, die 2005 ihr jähes Ende nahm. Da sei zum Beispiel die Sache mit der "Reichensteuer". Vor Rot-Grün betrug diese noch 53%, nach Rot-Grün sind es jetzt nur noch 42%. Ganze elf Prozent senkten die eigenen Parteigenossen diesen Steuersatz, "ein fundamentaler Politikfehler" sei das gewesen, findet Herrmann. Rot-Grün habe die Reichen begünstigt. "Einkommen und Vermögen werden im Kapitalismus konzentriert. Rot-Grün hat diese Tendenz bestärkt." So richtig erwidern tut niemand auf diese Kritik. Sündige Reue bei den Grünen, so etwas fehlt den Sozialdemokraten größtenteils noch. Aber Cem Özdemir ist ja auch nicht zum antworten hier, er ist "lediglich Moderator". Im Zuge dieser Aufgabe hält er immer wieder sein iPhone hoch, präsentiert die Restlaufzeit des Redevermögens.
Eva Quistorp sorgt dann dafür, dass wieder Ordnung und System in die Debatte kommt. Das Reißverschluss-Verfahren fordert sie. Also, dass Frauen und Männer abwechselnd reden müssen. Özdemir belächelt das, während sie spricht gibt er sich große Mühe so zu wirken, als interessiere ihn das gar nicht. Er guckt ihr nur einmal ganz kurz in die Augen, bei den anderen Diskutanten ist das anders.
Die Debatte an sich verläuft, wie man sich eine Debatte bei den Grünen vorstellt. Jeder überzieht seine Redezeit, wilde Thesen und Argumente werden durcheinander geworfen. Drei Gerechtigkeitsbegriffe gäbe es, den Thesen fehlten Parteitagsbeschlüsse, ohnehin sei alles so kompliziert, obwohl doch allem der Überbau fehle, Freiheit für alle à la John Rawls, Konsumsteuer, Grundsicherung - alles denkbare zum Thema wird eingeworfen. Wie wird die Schere zwischen Arm und Reich wieder kleiner, der Abstand kleiner, wie könne man in Zukunft damit umgehen? Wachstum sei begrenzt, so viel ist klar. Aber wie will man es begrenzen? "Dann müsse man den Kapitalismus abschaffen", sagt Herrmann. Und das funktioniere nicht, weil der Mensch geizig sei, weil wir alle durchtrieben sind vom Kapitalismus, der uns seit 200 Jahren leitet. Sie erinnert noch an die Nichtwähler, an Sarrazinsche Thesen und, dass solche Strömungen und Tendenzen gefährlich sind.
Am Ende fassen beide Podiumsdiskutanten die Wortbeiträge des "Fußvolkes" nochmal zusammen, dann ist die Zeit vorbei. Was bleibt nach diesem Forum? Eine "Argumentlandkarte", die aufzeigen sollte wo die Schwerpunkte und Thesen der Debatte liegen und der Gedanke an einen lächelnden Cem Özdemir. Ansonsten? Man wird sehen müssen, was die Partei mit der eigentlich großartigen Veranstaltung anstellt. Der tatsächliche Schwerpunkt dürfte nicht auf dem heutigen Tag liegen, sondern darauf, was man mitnimmt. Wie man die - zugegebenermaßen schwer auffindbaren - Ergebnisse verarbeitet und vielleicht eines Tages in ein neues Grundsatzprogramm stürzt. Glück auf.
Gleich spricht die ehemalige brasilisanische Präsidentschaftskandidatin der Grünen, dann kommt die zweite Workshoprunde.
Dankeschön - habe mich sehr amüsiert! Wenn jetzt noch der John Rawls heißen würde, perfekt ;)
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