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Disqualifiziere Dich selbst!

Henning Rasche

Es gibt Typen. Solche und solche - oder sonne und sonne, wie es im Pott hieße. Ein Beispiel. Sie liebt es Schuhe zu kaufen, er am Wochenende Fußball zu schauen. Nochmal: Er liebt es Schuhe zu kaufen, sie am Wochenende Fußball zu schauen. Oder: der Jurastudent trägt Segelschuhe und einen Seitenscheitel, die Jurastudentin eine Longchamp-Handtasche und Perlenohrringe. Nochmal? Hier lieber nicht. Oder: die Öko-Aktivistin isst nur Tofu und kauft sonst nur Bioprodukte, die Wohlfühl-Mama trinkt Yogi-Chai-Tea-Latte - wobei Latte neuerdings wie Laathe ausgesprochen werden muss - und hat ihre Sonnenbrille im Haar stecken. Der Banker guckt gestresst auf seinen Blackberry und rempelt am Bahnhof - natürlich nur in der Hektik - andere Leute an. Der Obdachlose, der einen nach Kleingeld fragt, hat eine Fahne. Der Düsseldorfer trägt modische Lederstiefel und ist immer schön trendy gekleidet. Der Duisburger heißt Yilmaz mit Nachnamen. Die Friseuse trägt jeden Klatsch weiter. 



Gut, es war nicht ein Beispiel. Es waren mehrere. Aber wohl jeder kann sich - zumindest bei den meisten - Sätzen ein Bild dahinter vorstellen. Jeder kennt den künstlich gestressten Banker, jeder die Öko-Aktivisten oder die Schnösel-Studenten. Wir leben in einer Vorurteils-Gesellschaft. Wer das leugnet, der lügt. Wer behauptet, er habe keine Vorurteile, der unterschätzt sein Unterbewusstsein. Es gibt immer diese bestimmten Situationen, in denen wir genau das erwarten, was auch passiert. Weil wir die Menschen in Kategorien einordnen. In Schubladen. Wir machen genau das, was in einer Gesellschaft nicht passieren dürfte. Wir beurteilen Menschen nach ihrem Äußeren, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Um Missverständnisse zu vermeiden: Das ist kein Freifahrtsschein für Rassismus und soll schon gar keine Vorurteile pauschalisierend als richtig darstellen. Aber wer sich selbst einmal kritisch im Alltag beobachtet, der stellt fest: das Schubladendenken - es ist omnipräsent.

Doch das Problem, das sich dahinter verbirgt, ist die Beidseitigkeit. Wir alle machen es uns allen zu einfach, den jeweils anderen in die Schublade zu sortieren. Wir bestätigen viel zu oft Vorurteile und nur so kann das Gehirn diese standardisierten Abläufe eben als solchen, als Standard, abspeichern. Es ist paradox, aber was sollen wir tun? Warum hat ausgerechnet die Jurastudentin mit der man gerade spricht Perlenohringe und eine Longchamp-Handtasche? Zufall? Wieso bestellt die Mutter mit dem 1500 Euro teuren Kinderwagen bei Starbucks eine Chai-Laathe? Zufall? Wieso hat der Duisburger, der bei Günther Jauch auf dem Stuhl gerade die 64 000 Euro-Frage beantwortet, türkische Wurzeln? Und wieso eigentlich sehen Nerds immer so aus, wie wir uns Nerds vorstellen (fettige Haare, Pickel, Metall-Brille, Comic-Shirt?)? Beantworten kann ich das nicht. Auch ich werde von Menschen in Schubladen gesteckt, schon mit einem Blick werde ich sortiert. 

Natürlich ist das etwas sehr subjektives. Von dem einen wird man so einschätzt, vom anderen so. Darum geht es aber nicht. Es geht darum, dass überhaupt Schubladen existieren. Schön wäre es jedem Menschen unvoreingenommen zu begegnen. Nicht zu wissen, welche Handlung er als nächstes tätigt. Aber wie oft kommt es vor, dass wir beim Beobachten von anderen Leuten, die Menschen immer genau das tun, wovon wir uns vorstellen, dass sie es tun? "Der holt bestimmt gleich sein Handy aus der Tasche und tippt darauf rum." Oder: "Sie bleibt bestimmt ganz sachlich, wenn die Staatsanwältin sie weiter befragt." Wer es nicht glaubt: ausprobieren und sich selbst beobachten wie man andere Leute beobachtet. 

Was steckt dahinter? Sehen wir in anderen uns selbst und projizieren unsere nächste Aktion nur in die des anderen hinein? Möglich, dass das einen Teil ausmacht. Aber möglich ist auch, dass wir Menschen sortieren, auch um das Gehirn zu entlasten. Und, man darf nicht vergessen: diese Sortierung funktioniert nur in den ersten Momenten der Kontaktaufnahme. Wer den Mensch hinter der Schublade kennenlernt, wird merken, wie oft er ihn umsortieren müsste. Und wenn ein Mensch ständig aus der einen in die andere und von dort in die nächste Schublade gelegt wird, dann zeigt das nur: der Mensch passt in keine Schublade. Blöd, dass zum weiteren Kennenlernen eben die ersten Momente der Kontaktaufnahme entscheidend sind. Wer da in die Schublade weit unten in der Kommode geräumt wird, der dürfte Pech haben. Wir können uns ja ein bisschen anstrengen und unsere Mitmenschen durch überraschende Aktionen entlarven. Versuchen wir's.  

 

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