Von Henning Rasche
In den vergangenen 40 Jahren gab es nur drei Deutsche, die den Literaturnobelpreis für sich gewinnen konnten. 1972 Heinrich Böll, 2009 Herta Müller - und 1999 Günter Grass. Letztgenannter hat sich dieser Tage zurück in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Vor wenigen Wochen publizierte er das israelkritische Gedicht, das einen enormen Widerhall fand, und nun, vor wenigen Tagen "Europas Schande". Während Grass' Gedicht zur Israel vor einem nuklearen Erstschlag des Landes gegen Iran warnte, kritisiert der Autor in "Europas Schande" den europäischen Umgang mit dem hochverschuldeten Griechenland. "Was gesagt werden muss" war von einer eindrucksvollen literarischen Langeweile geprägt - Grass bemühte Metaphern und Sprachbilder auf einem solch banalen Niveau, dass es keiner Interpretation bedurfte, um Grass' Intention zu erkennen. Antisemitische Vorwürfe an das frühere SPD-Mitglied jedoch erweckten den Eindruck von argumentativer Armut seiner Kritiker. "Europas Schande" hingegen bedient sich einer höheren Komplexität; ein einmaliges Lesen und eine oberflächliche Lektüre würden dem Werk nicht gerecht. Und doch sind es gewichtige Worte, die Grass findet, um Griechenland Wertschätzung zu offenbaren.
Es sind dies gewichtige Zeiten, von deren Tragweite wir womöglich erst in Jahrzehnten aus Geschichtsbüchern erfahren. Europa steht vor der Wahl: Abgrund oder Aufstieg. Rückfall in nationale Ressentiments oder Verbrüderung in einem vereinten Europa - als supranationales Gebilde, Bundesstaat oder anderen leider unfertigen Ideen. Von einer Sakralisierung Europas ist inzwischen die Rede, als ob Kritik an der europäischen Einigung ein Tabubruch wäre. Dieser vermeintliche Tabubruch, den sich auch ein Thilo Sarrazin zunutze machen will, ist eine Bankrotterklärung des Meinungsaustausches. Wird Kritik an Europa als Tabuburch deklariert, so wird eine Sakralisierung erst herbeigeredet. Nur wer Kritik an einer Sache zulässt und mit Argumenten dafür eintritt, der stärkt die Sache. Kritik als ungehörig abzuweisen ist Ausdruck argumentativer Schwäche.
Dieses Europa sollte durch die Wirtschaft zueinander finden. Der europäische Binnenmarkt war oder ist es, der durch ökonomische Regeln, die europaweit einheitliche Standards setzten, die Einigung des Kontinents politisch und monetär vorantreiben. Doch mit der Wirtschaftskrise wurde auch das Legitimationsdefizit offenbar, das als großes Loch unter der Oberfläche der europäischen Strahlkraft klafft. Entscheidungen - so der von Staats- und Regierungschefs befeuerte Eindruck - werden erst in gemeinsamer Runde bei einem Glas Prosecco beschlossen und erst hinterher die nationalen Parlamente zur Zustimmung gezwungen. Von "Alternativlosigkeit" ist schnell die Rede. Die Krise, die den Mitgliedern der Euro-Gruppe ein ungeahntes Ausmaß an Solidarität abverlangt, zeigt auch wie hilflos und unbrauchbar die Regeln der Gruppe sind, die seit dem Vertrag von Lissabon gelten. Um der Krise Herr zu werden, brach man einige dieser Regeln - ungestraft. Ein kleiner Führungszirkel von Politikern bestimmt das Vorgehen - allen voran Angela Merkel. Sie betreibt die Politik des Schweigens. So werden die vereinigten Völker Europas der Idee nichts mehr abgewinnen können. EU, Euro und Europa - Synonyme für Krise, Kapitalismus und Versagen. Welch ein Graus.
Griechenland als Erfindungsland der Demokratie ist die Klippe des Abgrunds längst hinab gefallen. Solidarität mit der Hellenischen Republik wird rar und unpopulär. Es zeigt sich an dieser Stelle, dass Europa sich nicht ausschließlich über den Euro definieren darf. Solidarität zeigt man nicht nur mit Geldscheinen, mit Überweisungen. Ein pathetischer Appell zum Zusammenhalt der Schwestern und Brüder in Europa wäre wünschenswert. Der Versuch diese internationale Familie gegeneinander auszuspielen wird scheitern. Es ist unsere Überzeugung, unser Stolz und unsere Verantwortung diese Familie zusammen zu halten. Einer für alle, alle für einen. "Dann sollen die Griechen halt gehen" - das ist der Anfang vom Ende. Tritt Griechenland aus der Euro-Gruppe aus, wer garantiert dort noch Frieden? Ein Bürgerkrieg mitten in Europa, der Wiege der Demokratie, des Bündnisses für den Frieden - er wäre als Gefahr real. Und so ist es die verdammte Pflicht nicht immer nur über "die Griechen" zu reden, sondern endlich mit ihnen. Es kann von niemandem das Ziel sein, ein Familienmitglied auszustoßen, nicht einmal der "SPIEGEL" in seiner unsäglichen Weisheit könnte den Verfall Europas dann noch verhindern.
Wer garantiert, dass auf Griechenland nicht Spanien folgt? Auf Spanien Portugal und auf Portugal Italien oder Frankreich? Es mag ökonomische Gründe dafür geben, ein Land loswerden zu wollen. Nur ist es eben dies der zu oft begangene Denkfehler, Ökonomie stünde an erster Stelle. Wer die Präambel des Lissaboner Vertrages liest, der findet selbst dort wirtschaftliche Ziele an forderster Front. Doch Europa ist ein Schicksal, für das es sich zu kämpfen lohnt. Wer glaubt ernsthaft daran, dass sich ein Nationalstaat wie die Bundesrepublik Deutschland im Wettbewerb der Nationen ohne Europa noch Gewicht hätte? Vereint sich Europa nicht immer weiter, so wird dieser Kontinent in der Weltpolitik die Rolle von Schneewittchen einnehmen. Schön, aber machtlos, weil schlafend.
Es ist erbärmlich, wenn renommierte Blätter wie die FAZ oder die CDU sich über das Gedicht von Grass lustig machen, als hätte ein Wahnsinniger mal wieder seinen Unfug unters Volk gebracht. Grass beschreibt die tatsächliche Bedrohung für Europa, für Griechenland in der gegenwärtigen Situation mit dem schärfsten Schwert der Meinungsäußerung. Einem politischen Gedicht eines der wenigen verantwortungsbewussten Intellektuellen, Günter Grass. Europas Schande ist in vollem Gange. Begeisterung für ein vereintes Europa weckt auch eine Bundeskanzlerin nicht durch Schweigen, sondern nur durch flammende Plädoyers. Dieses Plädoyer muss sie an ihren Auftraggeber richten, das deutsche Volk. Tut sie das nicht, ist die Gefahr für Europa unermesslich groß. Die subjektive Gefahr, dass das Volk Merkel überdies das Mandat entziehen könnte, erscheint dagegen verschwindend gering.
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