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Emotionale Extremitäten

Von Henning Rasche

Als beim Fußballrelegationsspiel zwischen Hertha BSC Berlin und Fortuna Düsseldorf noch während des Spiels ein offensichtlich fehlorientierter Mann den Elfmeterpunkt aus dem Rasen schnitt und drei Minuten bevor der Schiedsrichter die Partie beenden konnte Hunderte bis Tausende weitere Fans auf die Spielfläche strömten, da hat so manch konservative Kraft an den Untergang des fußballerischen Abendlandes, zumindest aber Niveaus geglaubt. Nun hat sich Deutschland der Europameisterschaft verschrieben. Sportlich läuft es ordentlich, die Vorrunde ist überstanden, das Viertelfinale erreicht. Dabei ist - noch in schärferer Form als es 2010, respektive 2008 der Fall war - ein gewisser emotionaler Extremismus zu erkennen. Minimale Erfolge werden gefeiert als gäbe es kein Morgen. Als wären wir gerade eben Europameister geworden. Und als wäre das alles kein Fußball mehr, sondern so etwas wie eine staatliche Religion, zu der jedermann verpflichtend gehört. Gewiss, Sport muss, darf und soll Spaß machen. Freude ist erlaubt; wer wollte dies verbieten? Aber sind wir nicht an einem Punkt angelangt, wo ein einzelnes Fußballspiel emotional völlig überfrachtet wird?


Welches der drei von der deutschen Elf bestrittenen Vorrundenspiele man auch nimmt: es gibt wohl keine Stadt, in der keine Autocorsos durch die Gegend brausten, bei denen Menschen wild Fahnen aus Fenstern wedeln und Hupen als ginge es um Leben und Tod. Oder noch mehr. Die Mannschaft von Jogi Löw spielte gegen Portugal schlecht. Glücklich gewann sie die Partie; gegen die Niederlande sah es schon etwas besser aus - barcelonischer Wunderfußball, wie die Erwartungen mancher Kommentatoren forderten, war noch nicht zu bestaunen. Von dem mageren 2:1 gegen Dänemark ganz zu schweigen. Freilich darf das, wer mag, anders beurteilen; derjenige wird drei Siege in drei Spielen argumentatorisch auf seiner Seite wissen. Aber es ist schon ein Verhalten zu erkennen, dass die Dinge völlig überhöht werden. Solch große Fußballturniere werden alle zwei Jahre ausgetragen; EM und WM wechseln sich ab. Es ist schön, wenn Freunde miteinander Fußballgucken, es ist schön, wenn friedliche und fröhliche Feste gefeiert werden. Aber bei all dem sollte der Sinn für die Realität nicht verloren gehen. 

Offenbar ist Fußball das Ventil für allerlei Alltagssorgen geworden, vielleicht Gelegenheiten um sich aus der ungeliebten Realität zu verabschieden oder sie zumindest für einen kurzen Zeitraum auszublenden. Reichte es vor noch wenigen Jahren sich zu freuen, zu jubeln, muss es heute immer ein Event sein. Es reicht nicht mehr das Spiel zu sehen, es zu analysieren; nein, das Spiel muss im Event gesehen werden. Es besteht eine quasi-sozialer Zwang sich die Spiele im Rudel anzuschauen. Die Frage "Wo hast du geguckt? / Wo guckst du?" ist Ausdruck dieses Zwangs. Es sollte sich einer wagen seine fußballerische Aversion zu offenbaren - vermutlich erntete er Blicke, die jedenfalls nicht nur als freundlich gewertert werden können. Fußball ist Leidenschaft, Fußball ist Emotion, gewiss. Aber wenn sich der fußballerische Laie, der sich an 335 Tagen im Jahr nicht für die Sportart interessiert, bei einem 2:1 gegen Dänemark in Ekstase verfällt, dann wirkt das, nun ja, unglaubwürdig.  

Es muss niemand im Rudel und nacktem Oberkörper völlig betrunken nachts nach dem Spiel über eine viel befahrene Straße torkeln, weil er seiner Freude Ausdruck verleihen will. Das kann er anders tun. Vielleicht würde es denjenigen helfen, den Fußball und die drei Vorrundenspiele erst einmal richtig einzuordnen. Wer vor der EM sich selbst als Titelfavoriten bezeichnet - und das waren ausschließlich Fans -, sich dann während der EM aber über einen Vorrundensieg wie andere über den Titelgewinn freut, der hat ein schiefes Wertegerüst. Es wäre schön, wenn der ein oder andere nachjustieren würde. Zum einen wäre es empfehlenswert, ein bisschen auf dem Teppich zu bleiben, zum anderen schön, fußballerische Abneigung einfach hinzunehmen. Fußball ist eben nicht unsere Ersatzreligion, die vereint als Nation alte Ressentiments aufstreben lassen soll. Wer das Fußballspiel als Fußballspiel wahrnimmt und nicht als die Wiederauferstehung Christi, der hat gute Chancen sich auch ausgiebig und rational über den nächsten Erfolg seines Teams zu freuen.  

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