VON
HENNING RASCHE
Es
gibt ein paar Geschichten, die hört man immer mal wieder – mal von denselben, mal
von anderen Leuten. Eine davon ist die, dass irgendwann ein ICE vergessen
hatte, am Wolfsburger Hauptbahnhof zu halten. Der Umstand, an dessen
Richtigkeit nicht zu zweifeln ist, ist natürlich Wind auf die Mühlen der
Zyniker der Welt, die schon immer wussten, dass alles schief läuft in diesem
Land. Und Wolfsburg sowieso unwichtig ist. Eine andere, zugegebenermaßen etwas
weniger verbreitete Geschichte, handelt davon, dass sich zu viele Menschen einfach
gleich verhalten und gleich kleiden. Ja, gleich verhalten, gleich kleiden, ist
eines. Mit dem Wolfsburger ICE hat das übrigens gar nichts zu tun. Außer, dass
diejenigen, die sich gleich kleiden und gleich verhalten, auch die Geschichte
von der Autostadt erzählen. Am Ende kommen wir zu der Feststellung, dass
ohnehin alle Menschen gleich sind. Sinnlos. Freilich: vor dem Gesetz sind alle
gleich; vor dem Spiegel ist jeder anders.
„Bunte
Schuhe sind einfach mega unreif.“ Hat letztens ein Typ gesagt, der sich die
Haare im Sidecut, Undercut oder Sonstwiecut rasiert hatte, einen
überdimensionalen Kunstfellpelzkragen und Lackschühchen trug und auch sonst
unheimlich mainstream aussah. Meine schwarz-blau-grünen Treter sind also mega
unreif. Ich freue mich, dass mein Gemüt, mein Charakter, so leicht zu
durchschauen ist. Bunte Schuhe, unreifer Mensch. Ist eine logische Konsequenz.
Umgekehrt dachte ich mir: wer so aufgeblasen modisch daherkommt, ist einfach
mega oberflächlich. Auch die logische Konsequenz, glasklar. Wenn der Typ sich
über mich erhebt, dreh‘ ich den Spieß einfach um. Wo wir bei der Frage
angelangt wären, was Kleider wirklich über Menschen aussagen. Der alte Keller
meinte, Kleider machten Leute. Aber er meinte wohl nicht, dass alle, die einen
hellbraunen Mantel, einen Pferdeschwanz, schwarze Leggins und rote Vans tragen,
gleiche Menschen sind. Das wäre absurd. Wobei?
Jeder
Mensch ist ein Individuum, gewiss. Nur, was sind das für Menschen, die
tatsächlich annehmen, man könne mit einem Kleidungsstück oder einem Jutebeutel
ein Statement abgeben? Glauben sie das gewiss und hoffen darauf, in die
Coolstergang aufgenommen zu werden? Der Kommentar: „Bunte Schuhe sind mega
unreif“, soll den Träger natürlich demontieren, klar. Seht her, wie infantil er
ist, er trägt bunte Schuhe. Albern. Dabei sind die Leute modebewusster denn je.
Viele – auch die Jüngsten – achten ungemein darauf, wie sie sich anziehen. Das
was früher mal Marken waren, sind heute Styles. Es ist nicht mehr so entscheidend,
dass Schuhe von Nike sind oder die Jeans von Levi’s; Ausschlusskriterium sind
Kombinationen. Das Shirt darf ruhig von H&M sein, Hauptsache, es hat V-
oder O-Ausschnitt und ist einfarbig. Ausnahmen mag es für den einen oder
anderen Klassiker geben, aber Marken sind unwichtig geworden.
Aber
können Klamotten Zeichen von Reife sein? Ist ein 15-jähriges Mädchen wie 22,
nur weil es extrem rot gefärbte Lippen hat und ein elegantes Abendkleid trägt?
Gewiss nicht. Kleidung wird überbewertet, sie spielt in unserem so beschränkten
Leben eine viel zu große Rolle. Sie kann einen Menschen sympathisch erscheinen
lassen oder unsympathisch. Aber eben auch nur das stimmt: der Schein. Wer
Menschen nach Kleidung beurteilt, verpasst häufig eine große Chance. Das dürfte
in beiden Richtungen gelten. Modische Menschen sind nicht grundsätzlich
oberflächlich und weniger modische sind nicht grundsätzlich tiefgründig. Und
andersrum. Also: lasset uns unreif kleiden und unglaublich reif verhalten, dann
geht’s uns einfach mega gut.
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