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Flucht vor der Entscheidung



Von Henning Rasche
Dieser Trend ist nicht sonderlich schwer zu erkennen. Die Künstler, Autoren und sonst wie relevanten Persönlichkeiten, die die Wochenzeitung DIE ZEIT in ihrer Ausgabe vom 5. September 2013 im Feuilleton um eine Wahlempfehlung gebeten hat, sprechen sich zum weit überwiegenden Teil für gar nichts aus. Grau hinterlegt sind die Namen derer, die keine Partei öffentlich nennen mögen. Rot steht wie gewohnt für Sozialdemokraten, Grün – Überraschung! – für Grüne, Lila für die Linken und Schwarz, nun ja, für die CDU. Niemand der 48 Befragten rät übrigens zur Wahl der FDP, aber das nur am Rande. Interessanter ist, was sich auch sonst nun schon häufiger hat beobachten lassen. Nämlich, dass sogenannte Intellektuelle - seien sie nun pseudointellektuell oder selbsternannt - sich dieser Tage verdammt häufig für ihr Votum zum Nichtwählen feiern. Das Motto dabei ist das immer Gleiche, das ewig wiedergekäute, Verzeihung, Geschwafel von einem Einheitsbrei der Parteien. Dabei stellen sie ihr Nichtwählen als Notwendigkeit, ja als Alternativlosigkeit dar, weil das graue Konvolut an parteipolitischer Antivielfalt nur noch durch Bagatellen und vermeintliche Schwachsinnigkeiten zu unterscheiden sei. So schreibt beispielsweise der – warum auch immer – gefeierte sogenannte Philosoph Richard David Precht: „Parteien tragen heute in der Gesellschaft kaum noch zur politischen Willensbildung bei. Sie sind primär Selbsterhaltungssysteme ohne echten Austausch mit anderen gesellschaftlichen Systemen“ (ZEIT Nr. 37/2013, S. 43). Es scheint, als feiere sich eine neue Klasse dafür, sich nicht mehr mit dem politischen System identifizieren zu können. Als wollten sie rufen: „Seht her, unsere Politiker, unsere Parteien sind so schlecht, ich hab gar keine andere Wahl als Zuhause zu bleiben.“ Das Nichtwählen wird so als Zwang skizziert, welcher aus der vermeintlichen intellektuellen Überlegenheit der politischen Klasse gegenüber resultiert. Was für eine einfache, grob fahrlässige und überdies gefährlich unkritische Haltung!

Einfach ist diese Haltung schon deshalb, weil sie die Auseinandersetzung mit der Realität scheut. Natürlich herrscht in gewissen Punkten zwischen demokratischen Parteien Konsens – zum Glück! Man stelle sich vor, es würde immer noch darüber debattiert werden müssen, dass Atomenergie gefährlich ist. Insofern ist die Angleichung von gewissen Grundsatzentscheidungen der Parteien selbstverständlich ein Fortschritt und kein Zustand, den es sich zurückzuwünschen lohnte. Die gesellschaftlichen und politischen Probleme haben sich schlicht verschoben, sind komplexer und internationaler geworden. Normen müssen nicht mehr nur in Karlsruhe vor dem Bundesverfassungsgericht bestehen, sie müssen in Einklang mit europäischem Recht stehen, wenn die EU als Gemeinschaft ihren Sinn nicht verlieren soll. Dadurch aber wird es für Bürger schwieriger. Diskussionen lassen sich häufig nicht mit zwei polarisierenden Auffassungen führen, es gibt nicht nur Schwarz und Weiß (oder Rot), es gibt nun einmal reichliche Schattierungen. Wer diese Feinheiten aber nicht mehr erkennen will – Politik ist kein Entertainmentbetrieb, sondern eine Mitmachveranstaltung! – der lässt sich zu der vermeintlichen These hinreißen, Parteien wollten alle dasselbe. Das ist schlicht grober Unfug. Das Nichtwählen als Konsequenz dieses angeblichen Konsenses ist insofern nichts als die Flucht vor der Entscheidung. Wer bei der Bundestagswahl am 22. September 2013 eine subjektiv vernünftige Wahl treffen will, der muss sich gezwungenermaßen mit den Programmen der Parteien auseinandersetzen. Die Politiker tun viel, um ihre Positionen zu verbreiten. Zeitungen, Fernsehen, Internet, persönliche Gespräche am Wahlkampfstand – wer sich informieren will, hat jede Gelegenheit dazu. Und – wer das tut, stellt fest: es gibt hinreichend Unterschiede zwischen den politischen Parteien. 

Schon in der ersten Sendung von Günther Jauch nach der Sommerpause stellte Das Erste das Wählen grundsätzlich infrage. Der durchaus politische Journalist Gabor Steingart gab darin zum wiederholten Male bekannt, er wähle nicht. Einen Denkzettel an die politische Kaste wolle er verteilen. Seht her, ich bin unzufrieden! Mit euch allen! Das ist für einen so klugen Kopf wie Steingart es nun wahrlich ist, eine grob fahrlässige, weil naive Einstellung. Er kann nicht tatsächlich davon ausgehen als änderte sich irgendetwas, weil nur noch 65 Prozent der Wahlberechtigten ihre Kreuze setzen. Gewählt ist, wer die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen kann – das gilt in den Wahlkreisen. Tja. Es wird zwar zahlreiche Bekundungen geben, wonach die niedrige Wahlbeteiligung bedauert würde, aber das nur aus rein opportunistischen Gründen. Die Wahlbeteiligung kann den Gewählten an sich ja furchtbar egal sein. Sie sind schließlich im rechtlichen Sinne gewählt. Dass die Legitimation ihrer Wahl bei einer Wahlbeteiligung von 65 Prozent (ein rein spekulativer Wert) nicht mehr gewährleistet wäre, dürfte sich aus normativen Gesichtspunkten nicht behaupten lassen. Juristisch bedenklich werden die Werte, wenn sie unter die 50 rutschen. Gewiss: Jeder Nichtwähler ist aus demokratietheoretischer Sicht ein Nichtwähler zu viel. Aber Denkzettel lassen sich nicht mit Nichtwählen, sondern nur durch Wählen ausstellen. 

Und so ist auch nicht verständlich, warum der Ruf nach einer Wahlpflicht stets mit einer Handbewegung vom Tisch gewischt wird. Bedenken, dies wäre mit dem Grundgesetz nicht zu vereinen, ließen sich – wie kürzlich ebenfalls in der ZEIT vorgeschlagen – durch das Feld „Enthaltung“ auf dem Wahlzettel ausräumen. Grund zur Sorge, dass Wähler mit Polizeigewalt in Wahllokale gebracht würden, müsste ebenso nicht bestehen. Wer nicht wählt, muss einen möglicherweise einkommensgerechten Strafbetrag an eine karitative Einrichtung oder für einen sonstigen sozialen Zweck entrichten. Der Zwang wäre keine leere Drohung, aber auch kein Auswuchs wie in einem Polizeistaat. Dass über solche Möglichkeiten innerhalb der Parteien, die so eine Wahlpflicht ja einführen müssten, kaum bis gar nicht diskutiert wird, liegt vor allem daran, dass Parteien wenig Interesse daran haben, dass jeder Bürger zur Wahl geht. Schließlich dürfte das womöglich einige Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments haben. Der Status quo wäre jedenfalls in Gefahr. 

Besagte Intellektuelle und andere Figuren des öffentlichen Lebens, die nun das Nichtwählen preisen, wie es das wohl noch nie gegeben hat, begehen einen undemokratischen Fehler. Sie verleihen dem Vorgang einen strukturellen Unterbau, der jedem Nichtwähler das Gefühl geben kann, etwas Gutes getan zu haben. Das ist aufs schärfste zu kritisieren. Wer wählt, unterstützt nicht den von manchem Professoren in zahlreichen Schriften gemalten „Selbstbedienungsladen Politik“, sondern verleiht sich selbst eine Stimme. Dass man unter den 38 an der Bundestagswahl 2013 teilnehmenden Parteien keine findet, die seine Interessen zumindest einigermaßen gut vertritt, lässt sich schwerlich behaupten. Derlei Aussagen deuten auf ein fehlendes kritisches Studium der Programme hin. Eine Einladung zum Nichtwählen ist das gewiss nicht.

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