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Abhängigkeit, die nicht existiert

Von Henning Rasche.

Eine Demokratie wie die deutsche lebt von ihrem Parlament. Das Parlament widerrum lebt von Sternstunden. Große Reden, beeindruckende Gesten, heftige Auseinandersetzungen: und trotz aller Emotionen steht immer die Sachfrage im Mittelpunkt. So sollte es sein, in einem Parlament einer funktionierenden repräsentativen Demokratie. Unser Parlament ist der Deutsche Bundestag, und als dieser schon lange nicht mehr wegen einer Sternstunde in den Schlagzeilen gewesen. Was ist schon das letzte, woran wir uns noch erinnern? "Mit Verlaub Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch"? Bevor Zweifel aufkommen, ja, das war eine Sternstunde. Das fällt schon daran auf, dass sich heutzutage noch jeder daran erinnern kann. Eigentlich fordere ich gerade einen absurden Widerspruch ein: eine Sternstunde im Parlament, geführt von einer Bundeskanzlerin Merkel. Das kann gar nicht funktionieren. 

Und doch gab es vergangenen Freitag eine Sternstunde. Allerdings nicht angeführt von Angela Merkel, sondern von denjenigen Abgeordneten im Bundestag, denen die Sachfrage am Herzen lag. Peter Hintze beispielsweise, Andrea Nahles, und so weiter. Nach langer Zeit musste der Deutsche Bundestag über die Präimplantationsdiagnostik, kurz PID, entscheiden. Verbieten wir die Kontrolle von Genmaterial auf Genfehler oder lassen wir sie zu, könnte man vereinfacht formulieren. Das Ergebnis ist bekannt: Die PID wurde verboten, nur in einigen Ausnahmefällen - die allerdings etwas schwammig formuliert wurden - ist sie zugelassen. Die Richter sind angehalten, das restriktiv auszulegen. Doch warum Sternstunde, und nicht normale Abstimmung im Bundestag? 
Nun, häufig verläuft es anders. Wenn im Hohen Haus die Glocken klingeln, wissen die Abgeordneten Bescheid, dass sie zur Abstimmung kommen müssen. Der vorangegangenen Debatte haben sie in den seltensten Fällen gefolgt. Also kommen die Abgeordneten in die Abstimmung, gucken wie sich die Kollegen der Fraktion entscheiden, und stimmen dann demenstprechend ab. Als jemand mal drei Abgeordnete unterschiedlicher Fraktionen nach einer Abstimmung fragte, worüber sie gerade abgestimmt hätten, konnten sie die Frage nicht beantworten. Die Vertreter des Volkes stimmen sozusagen blind ab. In vielen Fällen. Bei der PID-Debatte am Donnerstag war das anders. Der Bundestag war gut gefüllt - mit Abgeordneten, Zuschauer sind häufiger da - und die Diskussionen wurden sehr emotional und gleichzeitig sehr sachlich geführt. Es wurde eine wahre Debatte geführt, deren Inhalt sicherlich umstritten ist, die Art und Weise der Diskussion jedoch herausragt aus dem tristen Alltag der Politik-Maschinerie. Jeder Abgeordnete hat für das gestimmt, wovon er glaubte sich am meisten von überzeugt zu haben. Ganz freie Entscheidungen durften sie treffen, die Abgeordneten, nur ihrem Gewissen waren sie dieses Mal verpflichtet. 

Doch, Moment. Sind sie das nicht immer? In der Medienberichterstattung zu der PID-Debatte fiel erstaunlich oft der Satz: "Der Fraktionszwang wurde aufgehoben". Irritiert las ich noch mal. Wie kann man etwas aufheben, was gar nicht existiert, oder besser: existieren darf? Unter dem Fraktionszwang versteht man die ungeschriebene Verpflichtung für die Abgeordneten einer Fraktion mit "einer", also der gleichen Stimme zu votieren. Das soll nach außen vor allem eins: Einigkeit beweisen. Doch, dieser Fraktionszwang, den es wohl rein tatsächlich geben dürfte, ist rein rechtlich gesehen verboten. In Artikel 38 Grundgesetz heißt es wörtlich: "Sie [die Abgeordneten] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen." Sie sind an Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Fraktionszwang widerspricht dem sehr deutlich. Wie habe ich mir das also praktisch vorzustellen, wenn der "Fraktionszwang aufgehoben wird"? Sagt Bundestagspräsident Norbert Lammert: "Liebe Abgeordnete, heute dürfen Sie sich mal so entscheiden, wie Sie wollen", oder wie? 

Der Fraktionszwang ist etwas, was im deutschen Politiksystem schon fast anerkannt ist. Zwar ist es ebenso anerkannt, dass die ganze Chose verfassungswidrig ist, aber wen kümmerts. Dabei gibt es kaum etwas, was der lebhaften Demokratie so sehr schadet, wie der Fraktionszwang. Nur, wenn sich alle Abgeordneten mit der Materie emotional auseinandersetzen, kann es für die Bürger - also die Auftraggeber und Herrscher über die Politiker - ein akzeptables, faires Ergebnis in der Debatte geben. Kurzum: Wir sollten nicht nur fordern, dass der Fraktionszwang de facto nicht mehr vorkommen darf, sondern viel mehr, dass die Debatten wieder mehr an Bedeutung gewinnen. Denn Debatten sind gelebte Demokratie.  

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