Von Henning Rasche
Wer in der Politik an der Macht ist, der will zumeist gestalten. Regieren sollte also bedeuten den Entwicklungen zuvor kommen, Entscheidungen fällen und umsetzen bevor sie nötig sind. Geschieht das in diesem Maße, wird kaum jemand behaupten, er würde schlecht regiert. Bundeskanzlerin Merkel verfolgt - sofern ihr mal die Existenz einer Strategie unterstellt werden darf - einen anderen Plan. Sie regiert nicht, sie reagiert. Es kommt eine Entwicklung auf Deutschland zu - nehmen wir zufällig mal die Staatsschuldenkrise - und sie versucht daraus dann was zu machen. Auf das Problem folgt die Lösung. Und nicht umgekehrt. Das mag man praktisch finden oder clever. Eines ist es aber vor allem nicht: weitsichtig. Und vor allem bestätigt es den Eindruck vieler Bürger, dass sich diese Regierung nur noch treiben lässt. Von Entwicklungen, Krisen, Märkten oder sonst wem. Doch diejenigen, die uns regieren, sind keine Krisenmanager. Ihre Aufgabe ist viel komplexer: Sie sollen nicht nur dafür sorgen, dass vorhandene Krisen abgeschwächt und gelöst werden, sondern auch, dass keine neuen entstehen. Fest steht aber, die jetzige Regierung schafft weder das eine, noch das andere. Es fehlt ihr an fachlicher, politischer und menschlicher Kompetenz.
Die Entwicklungen in Europa und Deutschland getrennt betrachtet, weisen sehr interessante Differenzen auf. Der Vergleich hinkt zwar ein wenig, weil Europa kein Staat ist, aber der Sinn bleibt erhalten. Als sich Deutschland 1949 das Grundgesetz gab hatte es gewiss eine Menge zu bewältigen. Das Grundgesetz versteht sich als Antwort, als Reaktion auf alles Schreckliche, was Deutschland zuvor ereilte. Heute, im Jahre 2011, lässt sich vor allem feststellen, dass das Grundgesetz gehalten hat. Klar wurde es hier und da ergänzt, abgeändert oder verbessert, aber das Allermeiste, das Wesentliche blieb stets erhalten. Was 1949 als schrecklich galt, gilt auch 2011 noch als schrecklich. Was 1949 nicht nur verfassungsrechtliche Werte waren, sind auch 2011 noch Werte im Recht und in der Gesellschaft.
Die Europäische Union hat da eine deutlich kuriosere, weil unkonstantere Entwicklung hinter sich. Man schuf ständig neue Verträge, erst in Rom, dann in Amsterdam, Nizza, Maastricht und schließlich in Lissabon. Diese Verträge waren Reaktionen auf das was geschah. Sicher, Verträge sind keine Verfassung. Aber das Projekt europäische Verfassung ist nur in soweit gescheitert, als dass die ursprünglich entworfene Verfassung 2007 lediglich um ein paar verfassungsrechtliche Begriffe ärmer gemacht wurde (so wurden Begriffe wie Flagge, Hymne oder natürlich Verfassung rausgestrichen). Der Vertrag von Lissabon ist die eigentliche europäische Verfassung. Allen Verträgen gemeinsam ist, dass sie nie auf Dauer Probleme lösen konnten. Ihre Weitsicht war arg beschränkt. Und auch der Vertrag von Lissabon zeigt in Zeiten wie diesen, dass seine Haltbarkeit irgendwo zwischen Frischmilch und Fruchtjoghurt liegt.
Das Grundgesetz ist wesentlich erfolgreicher als alles, was sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union jemals in ihre Verträge geschrieben haben. Schließen lässt sich daraus vor allem eines: so wie es bis jetzt war, geht es nicht weiter.
Es müssen Entscheidungen getroffen werden. Entscheidungen, die nicht zwischen Hebel ja und Hebel nein bestehen. Sondern Entscheidungen, die zukunftsweisend sind für das Europa, dass sich doch einst so viel vorgenommen hatte. Geben wir der EU mehr Macht, und vor allem: wie sieht diese Macht dann aus? Müssen wir nicht erkennen, dass wir um eine Verfassung mit Strahlkraft nicht mehr herumkommen? Wie verhalten sich die Mitgliedsstaaten untereinander und zueinander? Wie werden kurzfristige, politische Entscheidungen zukünftig getroffen?
Beispielhaft ist der Umgang der Mitgliedsstaaten mit der Quasi-Regierung. Eigentlich gibt es keine europäische Regierung. Aber dann doch wieder so ein bisschen, pro forma. EU-Ratspräsident Herman van Rompuy sollte so eine Art Regierungschef darstellen. Blöd nur, dass kein Mitgliedsstaat das akzeptiert. So ist die wahre europäische Regierung ein Zusammenschluss zweier Mitgliedsstaaten, von Frankreich und Deutschland. Was immer die beiden Regierungschefs derzeit beraten und vorschlagen - es wird gemacht. Damit wird nicht nur das ganze System Europäische Union ad absurdum geführt, sondern wieder eine Reihe weiterer Fragen aufgeworfen.
Eigentlich müsste es um so viel Grundsätzlicheres gehen in diesen Tagen. Die Zukunft von Europa könnte gestaltet und geplant werden. Wieso erkennen die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten nicht ihre einmalige Chance Europa zu ihrem Projekt zu machen? Wieso erkennen sie nicht diesen historischen Moment, den sie einfach nur noch ergreifen und gestalten müssen? Vielleicht, weil sie noch nicht einmal reagieren können.
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