Von Henning Rasche
Mein Rhythmus existiert nicht mehr. Montags, mittwochs, samstags einen Text schreiben - das war gar nicht schwer. Meist passierte in der Woche so viel, dass ich mich gar zwischen Themen entscheiden musste, die ich hier auf meinem Block thematisierte. Doch die Zeiten haben sich geändert. Dramatisch geändert. Heute komme ich nicht mehr mit. Das zeichnet sich nicht dadurch aus, dass ich jeden Tag einen Text verfasse, sondern noch anders: ich sehe mich kaum noch im Stande dazu einen Text zu verfassen. Es ist schwer geworden zu differenzieren, zu entscheiden, zu beschreiben, vorzuschlagen. Es ist sogar schwer geworden eine Meinung zu haben. Nichts ist leichter als beispielsweise gegen Studiengebühren zu argumentieren. Aber wie argumentiere ich gegen "die Märkte"?
Das Gefühl die Hintergründe nicht mehr zu verstehen - es ist im Vormarsch. Traute ich vor einem Jahr noch europäischen Krisengipfeln zu die Probleme zu lösen, so weiß ich heute, dass dem nicht so ist. War ich in politischen "Grundsatzfragen" unserer Kanzlerin zwar schon vor einem Jahr fern, vertraute ich ihr aber auf eine gewisse Weise. Ich glaubte, sie tut alles für Deutschland. Für die Bürger. Für uns. Und heute? Was glaube ich heute? An wen glaube ich? Nur noch an Gott? Und warum überhaupt an den? Es fehlt mir eine Instanz, eine Persönlichkeit, ja, es fehlt mir ein Intellektueller, der in der Lage ist, die Dinge beim Namen zu nennen. Probleme, die offenbar existieren, gemeinhin nur mit einem Wort als "Krise" abzutun, das verallgemeinert aufs Primitivste. Nur an der Häufigkeit des Auftauchens des Wortes "Krise" genommen, müsste ich ja in schrecklichen, in gräulich-fürchterlichen Zeiten leben. Das Leben hätte schon an Sinn verloren.
Und weil dies nicht sein kann, weil ich weiß, dass es mir doch eigentlich - im Vergleich zu vielen anderen Menschen auf dieser Welt - gut geht, glaube ich nicht mehr, dass alles immer nur Krise ist. Krise würde ja bedeuten, dass ein Problem kurz aufflackert, dann aber strategisch behoben wird. Die Krise zeichnet vor allem ihre Endlichkeit aus. Und dieser Faktor ist in der Wahl des Wortes abhanden gekommen. Die Umwelt ist in der Krise, der Euro ist in der Krise, Europa ist in der Krise, die USA sind in der Krise, Obama ist in der Krise, die Banken sind in der Krise, die Griechen sind in der Krise, die FDP ist in der Krise, der HSV ist in der Krise. Eigentlich müsste ich in einem Krisenland leben.
Doch die Bundesrepublik ist kein Krisenland. Die Bundesrepublik ist eines der reichsten Länder der Welt, sie hat eine der stolzesten und wahrhaftigsten Verfassungen der Welt, sie gewährt Gesundheit, Freiheit, Wohlstand und Sicherheit. In der Krise war sie bestimmt mal. Doch das was da seit drei Jahren akut ist, das scheint keine Krise mehr zu sein. Wer sagt denn, dass es nicht am System ist, das falsch ist? Wieso erhebt niemand außerhalb der Politik und den Banken die Stimme für die Banken? Weil es eine Krise ist? Oder weil es langsam eine Stimmung gibt, die dieses ganze Vorgegaukle eine vermeintlichen Krise nicht mehr abgenommen wird?
Was ist denn mit der Occupy-Bewegung? Linke Spinner, die das Ende des Kapitalismus herbeisehnen? Nein. Zu allererst Menschen, die sich nicht mehr von irgendwelchen übergeordneten Kräften vorschreiben lassen wollen, wie sie regiert werden. Es fehlt der Occupy-Bewegung allein an zulauf, weil es an einem Gegenentwurf zum aktuellen System fehlt. Sie alle wissen, dass sie es schlecht finden. Aber wissen, was sie besser fänden, tun sie nicht. Zum Vorwurf kann man das den Anhängern dieser Bewegung, die hoffentlich bald eine wird, nicht machen. Woher soll das Wissen kommen? Woher sollen die Menschen verstehen, woher ahnen, wie wichtig eine einzelne Bank wirklich für uns ist? Sie können es nicht. Wir können es nicht. Ich kann es nicht.
Wir werden überflutet mit geistreichen Vorschlägen. Das ist zu tun, jenes. Schmeißt die Griechen raus, lasst die Banken pleite gehen, verstaatlicht die Banken, Schuldenschnitt für Griechenland - das sind doch alles nur Behandlungen für Symptome, bei aller Liebe. Tolle Vorschläge kopieren und abnicken kann jeder. Doch ich will keine Symptome mehr behandeln, ich will die Ursache beheben. Und die Ursache für die Auswüchse in unserem System ist, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form nicht mehr mit dem Grundgesetz dieses Landes zu vereinen ist. Er gehört reformiert. Und wie, darüber sollten wir uns alle mal Gedanken machen. Politiker und Bürger und Banken. An einem Tisch. Welch naiver Vorschlag.
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